Jens von Fintel
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Wendejammer und Einheitslügen

Zu Günter Grass' Roman "Ein weites Feld"

Von
Jens von Fintel

I

Es war kaum anders zu erwarten gewesen. Einen guten Monat vor den eher lustlosen und bedenkenreichen Feierlichkeiten zum fünften Vereinigungstag legt der "Möchtegern-Nationaldichter" (Bild) Günter Grass einen gewichtigen Roman vor, das Buch zum Ereignis. Sein opus magnum, kolportieren Kenner und Bewunderer im Vorhinein, ein Jahrhundertwerk gar, annonciert sein Verleger, ein Fontane-Roman und zugleich ein Roman zur deutschen Wende, so wissen Besucher von Vorab-Lesungen zu berichten.

Die Enttäuschung - gespielte und, mag sein, auch echte - folgt prompt: "eine Totgeburt, ein Monstrum" (FAZ) sei das Buch, "unlesbar" und "armselig" (Die Zeit), "ganz und gar mißraten" (Spiegel). Der "Spiegel" erscheint zudem mit einer Fotomontage als Titelbild: der Großclown der deutschen Literaturkritik, Reich-Ranicki, zerreißt im Heiligen Zorn des Gerechten ein Exemplar des inkriminierten Werkes.

Und nun kann das Spektakel erst richtig beginnen. Vor dem Hamburger Verlagshaus des "Spiegel" protestieren Demonstranten gegen das Titelbild, es erinnere an die nationalsozialistischen Bücherverbrennungen - eine Einschätzung, der sich Grass, Staeck und andere späterhin anschließen. Nicht um Literatur, sondern um "politische Denunziation" (Die Woche), gehe es der Kritik, eine Kampagne sei da gestartet worden, ein Fall von "öffentlichem Kannibalismus" (Antje Vollmer) liege hier vor. Die Kritiker kontern: mit Grass verteidige die Linke nur ihr "starres konservativ linkes Weltbild" (H. Hirsch, Die Zeit), und weiter, die Kritik der Kritik erinnere doch sehr an Joseph Goebbels' Ersetzung der Kritik durch Kunstbericht, meint Reich-Ranicki.

Gerhard Henschel bringt in der TAZ die gesammelten Entrüstungen um den Grasschen Roman auf die gültige Formel: "Literatur ist das, was nie gelingt; Kritik ist das, was knallt und stinkt."

Die Gräben indes, aus denen solchermaßen publizistische Stinkbomben hin- und hergeschleudert werden, sind längst ausgehoben. Vor fünf Jahren schon einmal wurde in der Christa-Wolf-Debatte ein Stück Literatur zum Anlaß, vielleicht auch nur zum Vorwand genommen, um "den Intellektuellen" - und das heißt in Deutschland zuvörderst immer "den Schriftsteller" - als sich einmischende, öffentliche Figur, als Statthalter der Utopien und als Sinnstifter in unübersichtlichen Verhältnissen auf die Anklagebank zu rücken. Nicht anders jetzt, wenn Grass zugerufen wird, er solle seine "alte Stellung als Lehrmeister der Nation" doch endlich aufgeben (Fuld, Die Woche). Die moderne Gretchenfrage lautet dabei: "Wie hast Du's mit dem neuen Deutschland, Christa/Günter?" Die unveränderte Frontstellung markieren Signalwörter wie "SED-Unrecht", "Utopien, Abschied von den" und natürlich "Nation" auf der einen Seite, "Plattmachen", "Anschluß" und natürlich "Nation" auf der anderen.

Seltsam nur, damals wie heute, die Aufgeregtheit um die Schärfe der Auseinandersetzung in diesem neuen Kulturkampf. Wer vermeintlichen Vereinigungsgewinnlern und Legendenstrickern derart munter ans Standbein pinkelt, wie Grass seit der Wende immer wieder und nun auch mit seinem neuen Roman, der wird sich kaum beklagen dürfen, wenn ihm dies mit Wadenbeißereien vergolten wird.

Bedauerlich - aber vermutlich auch unvermeidlich - ist etwas anderes. Die Literatur verschwindet in diesem Streit, wird allenfalls noch pauschal abgeurteilt (das "Literarische Quartett" gibt hier das Muster ab). Bedenklich, daß auch die Verteidiger Grassens von literarischen Qualitäten kaum noch sprechen mochten - und dies völlig zu Unrecht.

Versuchen wir's also mit Literatur.

 

Günter Grass:
Ein weites Feld. Roman. Göttingen:
(Steidl Verlag) 1995. 784 S.



Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, 6/95, S. 14-15.

II

"Ein weites Feld" also und zunächst eine deutsche Lebensgeschichte. Theo Wuttke, Jahrgang 1919, unter den Nazis Kriegsberichterstatter in Diensten der Luftwaffe, zu Zeiten der DDR Vortragsreisender im Auftrag des Kulturbundes und mitunter Stasi-Zuträger, dann Aktenbote im Haus der Ministerien. Diesem monströsen Gebäude Gebäude in Berlin-Mitte - bei Grass symbolischer Ort einer Kontinuität der Macht jenseits aller Systemwechsel - bleibt Wuttke auch dann noch verbunden, als es nach der Wende zum Sitz der Treuhandanstalt wird. Nunmehr Faktotum der Treuhand, soll er unter anderem ein freundlicheres und sozialverträglicheres Kennwort für die treuhänderische Tätigkeit des "Abwickelns" finden.

Ihm als "Tagundnachtschatten" zur Seite gestellt ist eine Figur, die Grass einem Roman Hans Joachim Schädlichs entleiht: Tallhover, der ewige Spitzel, zu allen Zeiten, stets den wechselnden Herrschaften in Deutschland als Agent dienstbereit.

Dieses seltsame Paar nun durchstreift das Berlin und Ostdeutschland der Wende- und Nachwendezeit, kommentiert, verwirft, glossiert und nimmt resigniert zur Kenntnis, was sich dort zuträgt in jenen Monaten des Umbruchs. Am Vereinigungsgeschehen lassen beide kaum ein gutes Haar: "Von diesem Einigvaterland erhoff ich mir wenig" und "Deutsche Einheit ist immer die Einheit der Raffkes und Schoffelinskis", heißt es.

In ihren Dialogen und Reflexionen immer präsent ist der Dritte im Bunde - Theodor Fontane. Wuttke, wie sein Spitzname "Fonty" bezeugt, ist ein glühender Verehrer Fontanes. Aber nicht nur das, geboren am gleichen Ort, am gleichen Tag wie sein "Einundalles", lebt Wuttke dessen Biographie nach, imitiert seinen Sprachgestus, sein Aussehen, seine Schriftzüge - und er entwirft die Welt, richtet den Blick auf die deutschen Verhältnisse nach den Vorgaben seines Meisters. Wuttke/Fonty wird schließlich als dessen "Zweitgeborener", als "Wiedergänger" zum Ausweis der Unsterblichkeit des Dichters.

Diese Konstellation zweifacher Unsterblichkeit - in der "die Spitzel unsterblich sind wie die Dichter, die sie bespitzeln" - weist nicht nur auf die fürsorglich-feindliche Beziehung von Schriftstellern und Macht, von Literatur und Zensur, sie ermöglicht zugleich, den Einigungsprozeß 1989/90 vor den Hintergrund von gut eineinhalb Jahrhunderten deutscher Geschichte zu halten. "Jenseits aller Zeitbarrieren" wird in den Reden und Widerreden Fontys und Tallhovers "Vergangenes in zukunftstrunkener Präsenz" vergegenwärtigt und Gegenwärtiges mit Hilfe des Vergangenen kommentiert. Vor allem die Reichsgründung 1870/71 dient durchgängig als Folie für die Schilderung der Vereinigung 1989/90. Mehr noch: die Gegenwart wird so zu einer Art Neuauflage der Geschichte: "Einiges ändert sich, doch nichts im Prinzip", sagt Fonty.

Kernstück der Handlung ist zunächst einmal ein west-östliche Hochzeit; ein Motiv, ohne das Literarisch kein Auskommen zu sein scheint, wenn es um die Wiedervereinigung geht. Wuttkes Tochter vermählt sich mit einem westdeutschen Immobilienspekulanten, Grundmann. Die Ehe, wir ahnen es, scheitert, bietet aber Gelegenheit für einige satirische Seitenhiebe auf die deutsch-deutschen Fremdheiten. Ein weiteres Motiv ist das Auftauchen einer illegitimen Tochter, die hier allerdings eine Enkelin Wuttkes ist: "La petite", Spätfolge einer Liaison Wuttkes im Frankreich des Zweiten Weltkrieges, markiert die Gegenposition zu Fontys und Tallhovers Geschichtspessimismus, ohne sich dabei jedoch gegen deren Gewicht behaupten zu können.

Die Figuren werden gezeichnet in erster Linie in Vergleichen mit Fontanes Romanfiguren und Zeitgenossen, und ihre Geschichten berühren sich in mannigfaltiger weise mit den Geschichten Fontanes. Die Fontane Obsession Wuttkes/Fontys bleibt so das kompositorische Zentrum dieses Geschichts- und Gegenwartspanoramas. Folgerichtig ist es auch das Kollektiv des Potsdamer Fontane-Archivs, das als Erzählinstanz eingeführt wird. Grass arrangiert mit souveräner Virtuosität Versatzstücke aus Leben und Werk Fontanes, erfindet sie neu und verlängert sie in die Gegenwart. Dabei entsteht ein komplexes Geflecht intertextueller Bezüge, reich an Rückkopplungen, Querverweisen, Doppelbödigkeiten. Wegstrecken linearen und realistischen Erzählens wechseln mit ausgreifenden Dialogpartien, Briefen und Augenzeugenberichten. Die ebenso lebendige wie präzis kalkulierte Vielfalt der Erzähltechniken wird dabei stets reflektiert unter Rückgriff auf Fontanes Prosastil (dessen "Kunst der Aussparung", seine Dialogtechnik, sein "Plauderton").

Man hat Grass zum Vorwurf machen wollen, er erzähle nicht mehr, sondern behaupte nur, es gebe da keine Story, nur endloses Gerede, seine Figuren seien lediglich Marionetten, flach, ohne Eigenleben, kaum mehr als Sprachrohre Grassscher Thesen. Ähnlich wurde im übrigen weiland schon Fontanes "Stechlin" attackiert, ein "Versiegen der Gestaltungskraft" des Autors meinten die Kritiker damals ausmachen zu können. Diese Vorwürfe sind nicht in erster Linie falsch, sie sind schlicht albern. Mit ihnen wird eine dem Roman fremde ästhetische Doktrin - als "sozialistischen Realismus, minus Sozialismus" hat Grass sie einmal gekennzeichnet - zum absoluten Maßstab erhoben; ein Maßstab, der einem Gutteil der Literatur nicht nur des 20. Jahrhunderts kaum gerecht werden kann.

Dem Leser allerdings mach es Grass mit diesem Roman wahrlich nicht leicht. "Eine Herausforderung an den Leser" sei das Buch, eine "Zumutung" hat Grass bei Erscheinen des Werkes verkündet. Und in der Tat, die Lektüre ist mitunter mühsam, es erfordert einige Anstrengung, in diesen literarischen Kosmos hineinzufinden. Auch versierte Fontane-Leser und Kenner der deutschen Geschichte werden des öfteren ein Lexikon zu Rate ziehen, das eine oder andere Fontane-Buch zur Hand nehmen müssen, um sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden. Wem diese Art der Lektüre widerstrebt, wird mit diesem Roman kaum glücklich werden.

III

Trotz aller literarischer Stärken: es geht eben nicht nur um Literatur, es geht auch um Politik - und das ist nun der Jammer.

"Aus Sicht der Betroffenen" sei der Roman geschrieben, "aus Respekt vor diesen beschädigten Leben", versichert Grass. Nun, natürlich nutzt Grass die knapp 800 Seiten des Romans, um seine Sicht der deutschen Verhältnisse kundzutun - ohne daß man ihm jede einzelne Wendung der Figurenrede nachrechnen dürfte. Und es wird bei Grass niemanden überraschen, daß diese Sicht gekennzeichnet ist von einiger Bitterkeit und Düsterheit: Wuttke wie Tallhover bleibt am Ende nur die Auswanderung aus einem "ungastlich" gewordenen Deutschland.

Mag auch sein, daß Grass mit seinem Einspruch gegen Schönfärberei und Harmonisierungsgesäusel in Sachen Einheit seine Verdienste hat. Aber dieser Roman bestätigt damit lediglich die in Langeweile erstarrten Frontstellungen der deutschen Debatte und fällt in seiner politischen Dimension weit hinter sein ästhetischen Möglichkeiten zurück.

In dieser politischen Dimension setzt Grass auf Eindeutigkeit, anstatt auf eine verwirrende Vielstimmigkeit, eine Vielheit der Perspektiven und überraschende Perspektivierungen der Wahrheit. Anstatt dadurch die sture Selbstgerechtheit der Legendenbildner und Einheitslügner wie der Vereinigungskritiker und mancher poststalinistischer Apologeten, gar Wendejammerer zu untergraben, anstatt dessen bietet "Ein weites Feld", bei aller literarischen Kunstfertigkeit, am Ende doch nur eine mächtig angeschwollene, auf Romanmaß gestreckte und literarisch verkleidete Variante der bekannten Grasschen Vereinigungskritik.

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