Jens von Fintel
journalistische Arbeiten
wissenschaftliche Texte
Email


Bucklichte Männerphantasie

Gert Hofmanns letzter Roman "Die kleine Stechardin".

Von
Jens von Fintel

Das Glück ist ein Märchen aus uralten Zeiten. "Einmal, vor vielen, vielen Jahren", heißt es - nur das 'und wenn sie nicht gestorben sind' will nicht gelingen, denn: "Um diese Zeit, wie immer, starben die Leute viel". Gert Hofmann starb im Juli vergangenen Jahres und hinterließ einen wunderschönen Roman von der Liebe, vom Glück. Das hatte ihn umgetrieben in seinen späten Jahren: "Das Glück", so der Titel seines letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Romans (1992), in dem das Glück nur als Verschwindendes, dann Abwesendes, Entbehrtes gegenwärtig war. Anders nun in der kleinen Stechardin.

Das späte 18. Jahrhundert. In Göttingen, dem "akademischen Nest", "ein arges Loch", in der Gotmarstraße lebt ein seltsamer Gelehrter, häßlich, bucklicht, ein Gnom, stetig Wörter und Sätze notierend (die ihm später einige Berühmtheit eintragen werden) und träumt von diesem Glück: "Oft träumte er [..] von Frauen. Da schloß er die Augen und sagte: Ach!, und sie zogen an ihm vorbei." Doch in seinem 'zweischläfrigen Junggesellenbett' blieb "noch was frei", es "wollte einfach keine Frau kommen."

Immer wieder hat Gert Hofmann historische Persönlichkeiten, zumeist Schriftsteller, zum Material seiner Prosa, seiner Theaterstücke und Hörspiele gemacht: Casanova, Lenz, Balzac, Walser, zuletzt Tolstoi und jetzt eben Lichtenberg. Dabei ging es ihm nie um historistisches Erzählen, keine zähen Künstlerbiographien mit literarischem Anspruch, sondern Variationen der verbürgten Vergangenheiten, Vergegenwärtigungen sind es: "Es ist schon nicht mehr wahr. Es muß neu erfunden werden", heißt es noch ganz zu Beginn der kleinen Stechardin, und in einem Vorspruch schreibt Hofmann von seinem Lichtenberg: "Bei uns ist er geworden nicht, wie er war, sondern wie er auch hätte sein können." Dem historisch Versierten mag es Freude bereiten, die Geschichte vom Geschichtlichen zu trennen, erfundene von verbürgten Figuren zu scheiden, Zitate aus Lichtenbergs Briefen und Sudelbüchern zu verfolgen - auch hier mischt sich Erfundenes, Verändertes und Übernommenes -, schließlich gar im Text Anachronismen aufzuspüren. Doch bleiben wir beim Märchen.

Nach der Sehnsucht kommt - im Märchen - die Liebe, das Glück. Lichtenbergs Glück ist ein Mädchen, ein Kind, noch nicht dreizehn, Maria Dorothea Stechard, die kleine Stechardin eben. Lichtenberg löst sie bei ihren Eltern aus und nimmt sie zu sich. Ein Glücksspiel das, freilich mit gezinkten Karten. "Das Mädchen ist wunderbar! Man muß nur einen anderen Rahmen drum machen!", notiert sich Hofmanns Lichtenberg in sein Sudelbuch. Der Rahmen wird gewechselt, er unterrichtet sie, erzählt ihr, liebt sie. Das Kind geht selten außer Haus, ist unberührt und kann zudem kochen. Männerglück, Männerphantasie.

Diese seltsame, auch lächerliche Liebe zu beschreiben, zu erzählen wie "über den kleinen Lichtenberg die große Liebe kam" ist allemal ein Wagnis. Sentimentale Altherrenprosa droht, garniert mit pädophilen Pikanterien. Dagegen steht Hofmanns Blick und seine Sprache: eine Sprache des 'Ach so?!', ein lächelnder, vor allem aber staunender Blick auf die Menschen und ihr Treiben; 'wundersam!' scheint hinter jeder Zeile zu stehen. Wie sich da jemand behutsam, staunend und auch liebevoll Lichtenberg und der kleinen Stechardin nähert, das ist schon lesenswert.

Gert Hofmann:
Die kleine Stechardin.
Roman. München und Wien: (Carl Hanser) 1994. 213 S.



Dieser Artikel aus dem Jahr 1994 wird hier erstmals veröffentlicht.

Seitenanfang